Donnerstag, 23. September 2010

Toto, Tony und Tontassen in der Tanzstunde

„Noch ein bisschen langsamer und wir rollen rückwärts wieder runter…“,
kam Deryas Kommentar von der Seite. Besser hätte ich die Situation am Donnerstagnachmittag auch nicht beschreiben können. Mit gefühlter Schrittgeschwindigkeit quälte sich der „Toto“ die asphaltierte Landstraße hinauf. Sein Ziel? Cruz del Eje – Hauptstadt des „Departemiento“, also so etwas wie in Deutschland eine Kreisstadt. 20 km ist Cruz del Eje von San Marcos Sierras entfernt und war unser erstes „Ausflugsziel“. Der Hin- und Rückweg war schon ziemlich abenteuerlich. Der „Toto“ ist der Linienbus, der zwischen den beiden Orten hin und her fährt. Seine Jungfernfahrt muss wohl irgendwann in den 50er oder 60er Jahren gewesen sein. Aber hier in Argentinien gibt es so etwas wie den „TÜV“ nicht und somit fährt alles, was vier Räder und einen einigermaßen funktionierenden Motor hat auch auf den Straßen. Anschnallgurte sind nicht immer vorhanden und wenn, dann eher für’s gute Aussehen.

Um 15.40 Uhr sollte der Bus fahren. Derya und ich gehen rechtzeitig los und warten auf dem zentralen Platz in San Marcos. Da es hier keine Bushaltestellen gibt, haben wir uns einfach dorthin begeben, wo wir den Bus schon einmal vorbeifahren haben sehen. Außer uns sitzt heute aber leider niemand auf der kleinen Mauer, wo normalerweise die Leute auf den Bus warten. Zur Sicherheit fragen wir eine Frau, die gerade an uns vorbeiläuft. Sie erklärt uns, dass der Bus aus zwei Richtungen kommen kann. Option 1 hieße, wir stünden genau richtig, doch wenn der Bus aus der anderen Richtung kommt (Option 2) „Naja… wenn ihr’s hupen hört, rennt!“, sagt uns die Dame und lächelt. „Ob ihr wirklich richtig steht…“ geht mir durch den Kopf, da hören wir schon die Hupe. Ein wartender Taxifahrer deutet mit dem Arm in die andere Richtung. Die 50/50-Chance ging also nicht für uns aus. Schnellen Schrittes einmal quer über den Platz kommen wir aber doch noch rechtzeitig an. Der Busfahrer sieht uns, hält an. Die Tür ist bereits offen. Die durchgesessenen Ledersitze sind gut besetzt und das eine oder andere Gesicht kennen Derya und ich bereits. Für 3,50 Pesos (0,70 Euro) dürfen wir Platz nehmen. Jedes zweite Fenster ist geöffnet und die offene Fahrertür lässt einen leichten Wind durch den Bus wehen. Alte blaue Vorhänge werfen ein wenig Schatten und der Bus setzt sich in gemächlich in Bewegung. Es ist so laut, dass es schwerfällt sich zu unterhalten, auch wenn man direkt nebeneinander sitzt. Alles wackelt, der Busfahrer grüßt jeden zweiten Autofahrer, der uns entgegenkommt. In San Marcos hält der Bus noch drei oder vier Mal, jeweils vorher durch mehrmaliges Hupen angekündigt. Bei jedem Halt steigen zwei oder drei Leute aus und ein – auf zurufen, winken oder sonst wie. Beim Fahren gibt der Fahrer die Karten und Wechselgeld aus. Erst einen oder zwei Kilometer außerhalb San Marcos’ beginnt die asphaltierte Straße. Jetzt wird auch die Fahrertür geschlossen, doch laut und wackelig bleibt es trotzdem. Ich bereue, dass ich am Abend vorher beim Grillen (Adrian hatte Geburtstag und Julio und Patri 20-jähriges Hochzeitsjubiläum) so ausgiebig zugelangt hatte. Egal ob Flugzeug, Zug, Auto, Bus… mir wird sonst nie übel beim Fahren, doch der „Toto“ bescherte mir ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend. Gut, dass der Bus dann bis Cruz del Eje durchfuhr. So dauerte trotz begrenzter Geschwindigkeit die Fahrt nur eine gute halbe Stunde. Ich bin mir nicht sicher, aber bezweifle stark, dass auf der Strecke auch nur einmal der vierte Gang eingelegt wurde, will auch nicht wissen was passiert wäre, wenn.


Der Stadtplan von Cruz del Eje sieht ähnlich wie der von San Marcos aus – ein großes Schachbrett. Quadratisch sind die Straßen angeordnet, sodass es nicht allzu schwer fällt, sich zu orientieren. Wäscheklammern, ein Handtuch und ein günstiges Paar Schuhe stehen auf meinem Einkaufzettel, doch bevor das erste Geschäft betreten werden kann, wollen Derya und ich uns die Stadt ansehen. Es ist 16 Uhr – die Läden haben eh noch geschlossen. Siesta! Gewöhnliche Öffnungszeiten sind hier in etwa 9-13 Uhr und 17-21 Uhr. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen! Nachmittags sind die Straßen menschenleer und die Bürgersteige hochgeklappt. Nach etwas Umherlaufen in der prallen Sonne finden wir eine Bar, die „abierto“ („geöffnet“) ist – so zeigt es zumindest das Schild in der Tür an. Wir setzen uns an einen Tisch draußen und warten. Als wäre er gerade aus dem Tiefschlaf erwacht, hastet ein Mann nach draußen. Beim Laufen macht er sich noch schnell den oberen Knopf vom Hemd zu und nimmt unsere Bestellung auf. Zwei Kaffee und zwei „facturas“ und „criollos“ (so etwas wie „Teilchen“, einmal kuchenartig süß und einmal herzhaft gefüllt mit Hackfleisch). Zusammen gibt es das im Angebot, wie uns das Schild draußen verrät. „Alles klar“, gibt uns der Mann zurück und kommt einen Moment später wieder zu uns an den Plastiktisch, um ihn halbherzig abzuwischen. Noch wenig später – der Mann steht wieder vor uns. „Ich habe ein kleines Problem“, erklärt er uns. Wir schauen ihn fragend an. Er habe weder „facturas“, noch „criollos“ da im Moment, sagt er etwas beschämt. Stattdessen könne er uns aber eine andere Kleinigkeit fertigmachen. Die spanische Bezeichnung habe ich nicht genau mitbekommen, aber was dann einige Minuten später neben dem Kaffee bei uns auf dem Tisch stand, waren kleine Baguettestücke, die im Ofen aufgewärmt wurden – ziemlich hart und fad ohne irgendetwas drauf. Fad und eher lasch war auch der Kaffee, aber das scheint hier in Argentinien in den meisten Fällen normal zu sein. Lecker ist anders, aber in dem Moment stört es uns nicht großartig. Der Mann, der uns bedient fragt uns wo wir denn herkämen. „Aus San Marcos Sierras“, antwortet Derya. Ein etwas verwirrter Blick unseres Gegenübers lässt Derya weitererklären. „Aber eigentlich kommen wir aus Deutschland. Wir arbeiten hier für ein Jahr“, sagt sie. Das reichte dann als Erklärung – er sei einmal von Amsterdam nach Frankfurt gefahren, sagt der Mann, der wegen seines Akzents und der undeutlichen Aussprache nicht leicht zu verstehen ist. Besonders Holland hat es ihm anscheinend angetan. Man höre so viele verschiedene Sprachen – „Englisch, Französisch, Deutsch…“ Ahja. Hmm… Ich glaube, die einzige Sprache, die in seiner Aufzählung fehlte war Niederländisch. Naja, mittlerweile war es nach fünf. Die Stadt erwachte langsam wieder zum Leben und laute Musik aus einigen Klamottenläden oder Bars mischte sich mit dem Motorenlärm der Autos und Motorräder, die an uns vorbeifuhren. Nach einem Schlenker zum Bankautomaten, den wir nach dreimaligem Passantenbefragen gefunden hatten, und einem kurzen Abstecher in ein Sport- und ein Schuhgeschäft begaben Derya und ich uns wieder zurück in Richtung Busbahnhof. Im großen Supermarkt hofften wir, alles zu finden. Derya fand Shampoo, Duschgel und was sie sonst noch brauchte vergleichsweise schnell. Auf meiner Einkaufsliste konnte ich leider nichts abhaken. Ich muss mich wohl noch ein wenig gedulden, bis wir mal nach Córdoba kommen. Statt Wäscheklammern und Schuhen fanden dann 2 Kilo Bananen und ein gutes Kilo Äpfel den Weg in unsere Einkauftüten. Dazu noch ein dunkles Brot und Wasser mit Kohlensäure (beides nicht sehr verbreitet hier). Als wir den Supermarkt so gegen 19.15 Uhr verlassen, ist es schon dunkel. Wir setzen uns auf Plastikstühle am Busbahnhof und pünktlich um 19.45 Uhr rollt der „Toto“ wieder auf den Hof und hält an Bussteig Nr. 5. Für weitere 70 Cent können wir wieder mit zurück nach San Marcos Sierras. Ich frage mich innerlich, wie es möglich ist in dem Bus bei dem Ruckeln und Wackeln zu schlafen (wie ein Jugendlicher drei Reihen vor mir) oder aber zu telefonieren (wie eine Frau, die in der Reihe neben mir sitzt). Die Rückseite des Sitzes vor mir ziert eine Liebesbotschaft aus den frühen 90er Jahren. Was daraus wohl geworden ist? Gegen halb 9 verlassen wir den Bus und laufen über die für San Marcos Sierras typischen Sandpisten hinüber zu „Tony“. Tony hat hier eine Bar und macht für günstiges Geld gutes Essen. Frieder, der mittlerweile wieder zuhause in Dresden ist, hat uns hier am ersten Wochenende hingeführt. Die Brote aus der Bar in Cruz del Eje haben nicht allzu lange vorgehalten, sodass uns eine Pizza gerade recht kommt. Das Abendessen im Heim ist auch schon vorbei, sodass wir drinnen Platz nehmen und uns von Tony die Speisekarte erklären lassen. Die Wahl fällt auf eine „napolitana“, also mit frischen Tomaten belegte Pizza. Auch hier ist das „Tischabwischen“ mehr Schein als Sein, aber das Essen schmeckt gut und Tony ist auch ein Original, wegen dem es sich schon lohnt, in seiner Bar mal vorbei zu schauen. Über ihn kursieren wilde Geschichten im Dorf. Was davon wirklich wahr oder was dazugedichtet ist, weiß wohl nur er selbst. Geschätzte 45 Jahre alt, grau auf dem Kopf und extrem viel, schnell und man weiß nie genau, was er davon nun ernst meint und was nicht. Als er uns die Getränke bringt, fällt sein Blick auf meine Schuhe. Er fragt, ob ich sie aus Deutschland mitgebracht hätte. Ich bejahe. Er zeigt auf seine Schuhe. „NIKE!“, sagt er. Nach kurzem Überlegen: „35 Euro haben die gekostet!“. Günstig für ein paar Nike-Schuhe, denke ich und sage das auch. „NIX DA!“. Er zieht seinen linken Schuh aus, nimmt die Einlage heraus und hält mir den Treter vor Gesicht. Mit dem Zeigefinger pult er in einem Loch herum. „Drei Monate habe ich die erst!“, ruft laut und den Rest habe ich dann nicht mehr wirklich verstanden – vermutlich irgendwelche Flüche.


Und was ist in den letzten zwei Wochen sonst so passiert?


--> Leon und Tina haben mich überredet, mit zu einem Folklore-Tanzkurs zu gehen. Jeden Freitag um 18 Uhr findet der Kurs in einer „Hippie-Bücherei“ statt. In dem kleinen Haus werden neben Büchern auch Tee, Selbsthilfe-CDs, Tontassen, und –krüge in allen Variationen und alle möglichen gestrickten, gemalten, gebastelten Kunstprodukte verkauft. Sagen wir mal so… es war eine Erfahrung. Muss ich nun aber ganz ehrlich nicht jeden Freitag hin. Derya, die zwei Wochen vorher schon einmal da war, geht es ähnlich.


--> Letzte Woche war hier an zwei Nachmittagen Stromausfall – nicht nur hier im Haus, sondern im ganzen Dorf gingen die Lichter zwischen 13 und 19 Uhr aus. Was in Deutschland wohl zu einem kleinen bis mittleren Chaos führen würde, war hier nicht wirklich ein Problem. Die Läden, Cafés und Bars hatten meist geschlossen, nur die Kioske waren weiterhin geöffnet. Elektronische Kassen sind dort nicht nötig und alle Scheine, die größer sind als 10 Euro können nur in den seltensten Fällen gewechselt werden. Manchmal ist das gar nicht so leicht, wenn der Bankautomat nur 100-Pesos-Scheine (ca. 20 Euro) ausspuckt, doch die Mentalität hier kennt auch für solche Probleme eine einfache Lösung. „Dann zahlst du einfach das nächste Mal, wenn du hier bist!“ – so ging es zumindest mir beim letzten Mal, als mein Geld nicht gewechselt werden konnte. Das wäre in den meisten Fällen in Deutschland wohl nicht so einfach.


--> Ich habe meine ersten Erfahrungen im argentinischen Straßenverkehr machen können! Gleich in zwei Autos des Heims durfte ich in der letzten Woche vorne links Platz nehmen. Der Fiat-Kombi, der schon 270.000 km gelaufen ist, fährt sich eigentlich ganz gut, wenn man den einmal drin sitzt. Seitlich einsteigen heißt es für Leon und mich hier jedes Mal und dann Knie einziehen, sonst passen sie unter dem Lenkrad nicht vorbei. Abenteuerlicher ist hier der alte Mitsubishi-Bulli. Von den vier Türen ist eine unbenutzbar und die restlichen drei gehen, wenn man Glück hat, mit Gewalt auf. Das Fenster auf der Beifahrerseite hängt noch provisorisch drin und sieht so aus, als würde es jeden Moment herausfallen. Geschwindigkeiten werden geschätzt, denn die Tachoanzeige ist durchgehend bei 0 und wackelt höchstens, wenn man mal zu schnell über einen Stein gefahren ist. Die Schaltung hier ist rechts hinter dem Lenkrad, was zunächst mal eine Umstellung war. Leon ist schon zwei Mal im dritten Gang angefahren. Damit ist er nicht wirklich weit gekommen, aber das passiert schon mal. Der einzige Grund, warum die Autos überhaupt noch fahren ist, glaube ich, dass Adrian Automechaniker ist und die Autos dann immer wieder (provisorisch) flickt, wenn etwas kaputtgeht. Zugelassen würde in Deutschland unter Garantie kaum ein einziger der Wagen, die hier durch die Gegend fahren. Man fährt hier generell langsamer. Auf Sand bremst es sich halt nicht so leicht wie auf Asphalt und „rechts vor links“ gibt es hier auch nur pro forma. Das eigentliche Motto hieße zumindest hier im Ort wohl eher: „Das ältere und kaputtere Auto hat Vorfahrt“. Punkt für uns!


--> Seit vorgestern ist nun endgültig die „Einführungszeit“ hier vorbei – auch für Tina und mich. Wir beide arbeiten jetzt ebenfalls sieben Stunden pro Tag und das sechs Mal pro Woche. Wie viel Arbeit für uns anfällt ist von Tag zu Tag höchstunterschiedlich. Die vier Waschmaschinen laufen manchmal ununterbrochen und manchmal stehen sie stundenlang still. Auch die Kinder sind von Tag zu Tag unterschiedlich drauf. Mal hören sie, mal nicht. Ich sehne den Tag herbei, an dem ich wirklich alles verstehe, denn wenn die Kinder unter sich reden, geht immer noch einiges verloren. Zu schnell und zu undeutlich ist es meistens, aber es wird von Tag zu Tag besser.


--> Seit gestern ist hier Frühling! Der 21. September ist der offizielle Frühlingsbeginn und gleichzeitig „Tag der Schüler“. Auf dem Platz im Dorf gab es deswegen gestern Nachmittag eine „fiesta“. Kinder tobten rum, es wurde Musik gespielt und einige Schulklassen haben etwas vorgeführt. Das ganze Dorf (so schien es zumindest) war auf den Beinen und hielt sich auf dem Platz oder in einer der Bars um den Platz auf.


--> Heute morgen hatten Tina und ich die zweite Stunde unseres Spanischkurses mit Patri. Sie bringt uns in einem „Crash-Kurs“ die Eigenarten des argentinischen Spanisch bei und wiederholt noch einmal im Schnellverfahren die Zeitformen mit uns. Außerdem hat Patri uns gestern morgen in guten anderthalb Stunden die Geschichten und Hintergründe der Kinder hier im Heim erzählt, warum sie hier sind, wo sie herkommen, was ihnen zugestoßen ist und was sie alles schon durchgemacht haben. Obwohl wir schon einige Sachen von Frieder wussten, war es doch in manchen Fällen noch eine Überraschung der unschönen Art, was wir dort erfahren haben.


--> Heute nachmittag habe ich für ein lautes Lachen im Essensaal gesorgt. Während die Kinder hier Hausaufgaben machten, malten oder sich sonstwie beschäftigten, Carla am lesen und Roxana am stricken war, bin ich kurz in die Speisekammer gegangen, um ein Stück Brot zu essen. Das Klinkenproblem habe ich ja schon einmal in aller Ausführlichkeit beschrieben... Nunja, wie soll ich sagen. Offenes Fenster + Windstoß + Tür mit Klinke nur von außen = dumm gelaufen. Mit dem Stück Brot im Mund und umgeben von Nudeln, Kartoffeln und der lauten Tiefkühltruhe zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte zuerst Deryas und dann Leons Nummer. Zwei Mal Mailbox. Na dann Klopfen... erst leise, dann etwas lauter, dann "Hola? Me pueden abrir por favor?". Innerlich habe ich ja gehofft, dass Tina oder Leon in die Küche kommen würden und mich unauffällig aus meiner misslichen Situation befreien würden, aber nein... Carla hat irgendwann auf mein Klopfen reagiert und mal einen Blick in die Kammer geworfen. Dass mein Kopf dann etwas roter als vorher hat im Essenssaal niemand mitbekommen. Durch die Seitentür habe ich mich nach draußen begeben, aber das herzhafte Lachen der anderen konnte ich selbst draußen durch die geschlossene Tür noch hören.


Bis zum nächsten Eintrag, der wahrscheinlich nicht so lange auf sich warten lässt wie beim letzten Mal und beste Grüße aus dem Frühling,


Tobias

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen