Gesang von Jan Delay kommt etwas gequält aus unseren kleinen Lautsprecherboxen. Uschi steht gerade hinter mir und liest mit, was sich hier auf meinem Laptopdisplay tut. Auf dem Ausziehsofa sitzen Derya und Ketú. Leon macht sich gerade fertig und geht jetzt ins Internetcafé im Dorf. Es ist Viertel nach neun abends und ich sitze nicht im Hogar, nicht in der Oficina, von wo ich sonst immer schreibe, sondern sitze an unserem Frühstückstisch in unserer Wohnküche in unserem neuen Häuschen. Ja, es hat sich einiges getan in den letzten mittlerweile vier Monaten, in denen ich mich einfach nur schwer aufraffen konnte, meinen Blog zu aktualisieren. Seit drei Tagen wohnen wir Freiwillig
en nun nicht mehr im Heim, sondern sind ausgezogen. Ein Haus für fünf Personen (seit Januar sind wir Freiwilligen nämlich um Hannah alias „Uschi“ auf fünf gewachsen) zu finden ist hier im kleinen San Marcos gar nicht so einfach, aber wir haben es geschafft. Am Montag wurde der Vertrag unterschrieben und jetzt haben wir unsere eigenen vier Wände. Eine große Wohnküche, drei Schlafzimmer und zwei Badezimmer sind jetzt unser ganz eigenes Reich. Ich teile mir weiterhin mit Leon ein Zimmer, Uschi und Tina schlafen in dem großen Schlafzimmer und Derya hat ihr eigenes kleines Zimmer. Wir wohnen am Rande des Dorfes. Zehn Minuten sind es zu Fuß zum Heim, etwa fünfzehn ins Dorf. Heute morgen haben mich draußen vor der Terrasse drei Esel begrüßt und auch sonst haben wir hier viele Tiere in der Umgebung. Handgroße Spinnen, die in den Fensterläden ihre Netze weben, kleine Skorpione, die durch unsere Küche rennen und die Hornissen, die ihr Nest direkt über dem Küchenfenster haben. Von den unzä
hligen (Straßen-)Hunden in der Nachbarschaft brauche ich gar nicht erst anzufangen.
Unser Haus
Aber jetzt mal einigermaßen chronologisch: Mein letzter Blogeintrag ist auf den 29.12.2010 datiert. Stichpunktartig liste ich jetzt mal auf, was seit dem so passiert ist:
● Silvester / Neujahr: Ist im Grunde abgelaufen wie Heiligabend: Viel essen, um zwölf Uhr anstoßen und „feliz año nuevo“ wünschen, dann nach draußen zum Böllern. Argentinische Feuerwerkskörper sind von deutschen Sicherheitsstandards meilenweit entfernt. Es knallt lauter, schneller, unberechenbarer als bei uns. Im Gegensatz zu Heiligabend waren auch einige Kinder aus dem Heim bei der Feier dabei. Das war schon ordentlich gefährlich, was da ablief, aber es ist glücklicherweise nichts passiert. So gegen drei Uhr morgens haben wir Freiwilligen uns dann aus dem Heim auf die Feierlichkeiten im Dorf begeben. In einer Bar am Fluss spielte eine Live-Band. Reggaemusik mit Redefetzen und Parolen von Che Guevara gemischt. Nennen wir es „interessant“. Dementsprechend „interessant“ war dann auch das Publikum. Das neue Jahr lockte nämlich umso mehr Hippies und Alternative aus allen Teilen Argentiniens an, denn sie begann…
● … „la temporada“ – „die (Hoch-) Saison“
Während der drei Sommermonate Januar, Februar, März hat sich unser kleines verschlafenes Nest, das manchmal wie von der Außenwelt abgeschnitten wirkt, in ein kleines Touri-Paradies verwandelt. Auf einmal öffneten Geschäfte, die die Monate vorher immer leerstanden. Gefühlt war es wir vom einen auf den anderen Tag, dass alle Campingplätze und Hostels ausgebucht waren. Restaurants und Bars öffneten neu und Straßenverkäufer und –künstler tauchten auf und mischten sich unter die Massen auf der Plaza, die jetzt für Autos gesperrt und zur Fußgängerzone umfunktioniert war. Tische und Stühle der Bars waren draußen aufgestellt und San Marcos war voll! Autos drängten sich über die versandete Hauptstraße, in den Kiosken musste man lange anstehen, der Geldautomat war chronisch leer und am Fluss gab es keinen ruhigen Platz mehr. Menschen überall, Gitarrenmusik aus allen Ecken, Trommelgruppen, Feuerspucker, Sänger oder die armbandknüpfenden Hippies zwischen Familien, die in dicken Autos aus Buenos Aires in ihr Ferienhaus angerollt kamen. Mit den Touristen stieg auch erheblich die Polizeipräsenz im Dorf. An fast jeder Ecke konnten wir jetzt eine blaue Uniform ausmachen. Das dies nicht unbedingt immer zu weniger Problemen führt, haben Leon und Tina einmal mitbekommen, aber darauf gehe ich später noch einmal genauer ein. Jeden Abend gab es Konzerte und manchmal fiel es nachts schwer zu schlafen. Fenster zu und drinnen vor Hitze umkommen oder Fenster auf und die ganze Nacht Gitarrengedudel von einem der beiden Campingplätze, zwischen denen unser Heim liegt – Leon und ich entschieden uns eigentlich immer für letzteres.
● Besuch!
Eine Woche war das neue Jahr gerade alt, da bekam ich als erster unserer Freiwilligentruppe hier Besuch aus der Heimat. Philip hat auf seiner Südamerikareise zwischen den Iguazú-Wasserfällen im Norden Argentiniens an der Grenze zu Brasilien und Buenos Aires einen Zwischenstopp hier in San Marcos eingelegt. In einer Woche hat er so ziemlich alles von San Marcos gesehen. Einmal ging es hoch auf den Hügel „Cerro de la cruz“ zum großen weißen Kreuz, einen Nachmittag zum Rio San Marcos und in die „Quebrada“ („die Schlucht“), zum Pozo de Luz und abends zur Plaza die eine oder andere Empanada oder ein „Lomito“ essen. Extrem interessant fand ich hierbei zu sehen, wie er auf all die Eindrücke im Dorf und vor allem im Heim reagiert hat. Dinge, die mir überhaupt nicht mehr aufgefallen sind und die absolut selbstverständlich für mich waren, waren für ihn wie eine andere Welt. Ihm ging es in vielerlei Hinsicht so wie mir bei meiner Ankunft. Es hat mir ziemlich deutlich aufgezeigt, dass ich mich hier, trotz mancher immer noch fremden oder ungewohnten Dinge, schon weit eingewöhnt und eingelebt habe.
● „El festival de la miel“ – „Das Honigfest“
San Marcos im Ausnahmezustand – Straßensperrungen, das Stadion komplett gefüllt, Shuttlebusse bis tief in die Nacht aus Cruz del Eje und das ganze an Tinas Geburtstag! Das erste Februarwochenende stand hier im Zeichen des Honigs. Das Bienenerzeugnis musste allerdings eigentlich nur den Namen hergeben. Ansonsten hatte das Fest, das über vier Tage ging, relativ wenig mit „Honig“ zu tun. Konzerte, ein Umzug im Dorf, ein Volksfest mit vielen kleinen Ständen und eine Misswahl waren einige der Programmpunkte. Der Höhepunkt war das Konzert der „Banda XXI“. Die Combo, die aus einem guten Dutzend Männer besteht, ist in der ganzen Provinz Córdoba und auch weit über ihre Grenzen hinaus ein Begriff. Ich versuche mal einen einigermaßen passenden Vergleich für mein deutsches Heimatdorf zu ziehen. Man stelle sich vor, jemand wie „der Wendler“ oder Wolfgang Petry würde in der Halle Vollmer auftreten. Die Halle Vollmer ist vielleicht gerade einmal halb so groß wie das Stadion hier im Dorf und „el estadio“ war proppenvoll. Da wär Marianne sicherlich überfordert gewesen. Um elf sollte das Konzert losgehen, doch erst wurde noch die „reina de la miel“ („Honigkönigin“) gewählt. Unter einem kleinen Feuerwerk und Funkenregen und ich glaube sogar mit ein paar Freudentränen regierte sie ab dem Abend für ein Jahr lang das „Honigvolk“ und fährt zu anderen Schönheitswettbewerben in der Umgebung, wo sie sich dann noch Hoffnungen auf den Titel „Olivenkönigin“ oder ähnliches machen kann. Um ein Uhr stand dann die Band auf der Bühne und sorgte für ordentlich Stimmung. Vom kleinen Koten im Grundschulalter bis zur betagten Oma tanzten alle ausgelassen mit zu den eigenen Liedern der Band, vor allem aber zu Coverversionen wie „la niña bonita“, dessen Link ich hier vor einiger Zeit mal online gestellt habe. Noch zwei Vergleiche, die ganz passend sind: Textlich sind sich „la Banda XXI“ und „der Wendler“ oder Wolfgang Petry sehr ähnlich und wer sich noch an die sanitären Anlagen der Halle Vollmer vor der Renovierung erinnert, weiß wie es hier auf den Klos aussieht. Manche in „Otti-Botti“ trauern ja angeblich immer noch „ihrer Fliese“ hinterher.
● 3 Tage Urlaub + 8 Tage Seminar = 11 Tage auf der anderen Seite der Anden!
So schnell und plötzlich wie sie kam verschwand sie auch wieder – „la temporada“ („die Saison“) mit all ihrem Trubel. Gerade als die Schule nach der dreimonatigen Sommerpause wieder anfing und die Campingplätze sich zum Großteil wieder leerten, begann für Leon, Tina, Derya, Uschi und mich der erste kurze gemeinsame Urlaub. Acht Tage Zwischenseminar standen für Leon, Derya, Tina und mich auf dem Plan. „Zwischen“ – ja, es ist schon die Hälfte unseres Jahres rum. Ging ziemlich schnell, so kam es uns zumindest vor und so machten wir uns mit dem Bus auf den Weg in Richtung Westen. Unser Zwischenseminar fand nämlich nicht in Argentinien, sondern im chilenischen Olmué statt. In Chile gibt es noch deutlich mehr Freiwillige unserer Organisation. Die Gelegenheit haben wir genutzt, um den obligatorischen Bus-Zwischenstopp in Santiago de Chile um zwei Tage zu verlängern und die Stadt zu erkunden, doch in Santiago mussten wir erst einmal ankommen. Mit dem Bus ging es am Freitagabend von San Marcos zunächst nach Cruz del Eje, von dort nach Mendoza. Dort kamen wir am Samstagmorgen an. Nach nur einer halben Stunde fuhren wir von dort aus weiter nach Santiago. Eigentlich wollten wir dort frühabends ankommen, doch wir „EU-Verwöhnten“ haben die Grenzkontrollen nicht mit einkalkuli
30 Kurven vom Grenzübergang ins Tal
ert. Auf 3000 Meter Höhe inmitten der Anden ist der Grenzposten und der machte uns erstmal einen fetten Strick durch die Rechnung. Über fünf Stunden stand der Bus dort, bis dann endlich das gesamte Gepäck durchleuchtet war, wir einen argentinischen Aus- und chilenischen Einreisestempel im Pass hatten und der Zoll auch unser Handgepäck durchsucht hatte. Müde und hungrig kamen wir dann abends gegen zehn Uhr in unserem Hostel an. Das lag mitten
im studentischen Ausgehviertel Santiagos – „Bellavista“. Duschen, umziehen, Geld abheben, essen und dann? Auf ins Nachtleben der chilenischen Hauptstadt. Schließlich war es Samstagabend. Leon und ich mit drei hübschen Mädels, davon eine ganz klar „rubia“, - wir wurden schnell von Leuten auf der Straße angesprochen. Die Mentalität der Chilenen wirkte auf mich ausgelassener, offener, auf irgendeine Art anders als in Argentinien. So kamen wir mit einem Chilenen, dessen Mutter aus Kalifornien stammte ins Gespräch und er führte uns in einen etwas abseits gelegenen Club. Er kannte dort die Türsteher und mit unseren deutschen Ausweisen mussten wir nicht die 8000 Pesos (ca. 12 Euro) Eintritt bezahlen, sondern kamen umsonst und an der Schlange vorbei hinein. Das war schon ein komischer Moment, über den ich da aber nicht sonderlich nachgedacht habe. Später wurden wir sogar noch vom Türsteher von der Tanzfläche zur Bar gezogen, wo er uns einen ausgab. Andere Musik als in Argentinien und eine sehr ausgelassene Stimmung ließen uns bis um halb fünf in der Disko bleiben, bevor wir todmüde ins Bett fielen. Bei Tageslicht am nächsten Mittag begannen wir dann unseren Spaziergang durch die Stadt. Die Sehenswürdigkeiten waren alle zu Fuß gut zu erreichen und wir erfuhren einiges über die chilenische Militärdiktatur und hatten noch in der alten Markthalle eine ziemlich komische „die Welt ist klein“-Begegnung. Ein so um die 50 Jahre alter Kellner wollte uns zum Mittagessen in sein Fischrestaurant locken. Als wir im sagten, dass wir aus Deutschland seien, sprach er auf einmal im fließenden deutsch mit uns. Mit leicht nordischem Akzent erzählte er uns, dass er drei Jahre lang in Oldenburg studiert habe. In seiner Lieblingskneipe hat Leon eine Zeit lang gekellnert. Komische, aber nette Begegnung. Abends fuhren wir dann noch auf den Hügel „San Cristobál“. Von dort aus hatten wir einen Blick über die Fünf-Millionen-Metropole und konnten die Sonne hinter der Stadt in den Anden untergehen sehen. Der Blick war ziemlich getrübt vom Smog der Stadt, aber das machte uns nicht viel aus. Derya packte ihren „Mate“ aus und so konnten wir Deutschen ein Stück argentinische Kultur auch in Chile leben.
Nächster Morgen – auf zur Küste! Die chilenische Landschaft ist beeindruckend. Gerade noch von hohen Bergen umgeben, ist man gerade einmal Minuten später an der Küste und hat einen Ausblick auf den Pazifik. Valparaíso und Viña del Mar standen noch auf unserem Kurztrip-Plan. In der alten Hafenstadt Valparaíso hatten wir unser Hostel gebucht. Als wir dort nach einer kurzen Wahnsinnsfahrt in einem der unzähligen Minibusse ankamen, standen wir dort allerdings erstmal alleine rum. Die Tür war angelehnt, doch in dem kleinen Hostel war niemand. Rezeption unbesetzt, Musik kam aus dem Radio im Gemeinschaftsraum, Küche, Zimmer und Bad waren verwaist. Eine E-Mail von Leon, der schon vor uns dort angekommen war und sich noch mit Freunden, die er in der Stadt hatte, treffen wollte, erklärte uns dann, dass der Besitzer des Hostel „zur Uni“ musste und ihm einen Schlüssel gegeben hatte. Er wäre gleich wieder da und wir hatten das ganze Hostel für uns. Die „Oberstadt“ von Valparaíso mit ihren vielen bunten Häusern auf den Hügeln und dem allgegenwärtigen Blick aufs Wasser war an sich so malerisch, dass ich dort stundenlang hätte herumschlendern können. Die „Unterstadt“ hingegen war von dem großen Hafen geprägt, hektisch, laut und wirkte etwas schmutzig. Die „Unter-“ und „Oberstadt“ oben auf den großen Klippen und Hügeln waren durch zwei Dutzend alter Aufzüge verbunden. Für umgerechnet fünfzig Cent konnte man dort hoch oder runter fahren. Den Abend verbrachten wir fünf dann in Viña del Mar, der größeren Nachbarstadt Valparaísos. Die beiden Städte (zusammen ca. 800.000 Einwohner), die unterschiedlicher kaum sein könnten, gehen fließend ineinander über. Die traditionsreiche alte malerische Hafenstadt Valparaíso auf der einen Seite, das etwas bonzige, neue, von Hochhäusern und Strandpromenaden gesäumte Viña del Mar. In Viña hatte Leon Bekannte. Er war dort vor drei Jahren bei einem Schüleraustausch und bei seiner Gastfamilie waren wir alle abends spontan zum Pizzaessen eingeladen. Seine Gastmutter begrüßte uns äußerst freundlich und wir unterhielten uns lange auf dem Balkon der netten Wohnung im Zentrum der Stadt, bevor wir wieder mit einem der rasenden Minibusse zurück nach „Valpo“ fuhren.
Derya und ich in der alten Markthalle - Santiago de Chile
Palacio La Moneda - ehem. Regierungspalast
Derya, Tina, Uschi, Leon und ich auf dem "Cerro San Cristobál" ("Hügel San Cristobál) in Santiago
Mit dem "funiculár" (Zahnradbahn) geht es runter vom San Cristobál ins nächtliche Santiago
Leon und ich in "Valpo" beim Chorrillana essen - Pommes, Zwiebeln, Ei, Rindfleisch.
Die Oberstadt von Valparaíso
Tina, Leon, Uschi und ich. Im Hintergrund der Hafen von Valparaíso
Einer der knapp 30 "Aufzüge", die Ober- und Unterstadt Valparaísos verbinden
Sand, Klippen, Pazifik. Die Hochhäuser im Hintergrund gehören zu Viña del Mar, dahinter fängt Valparaíso an.
Das Seminar
…war super! Auf der Fahrt nach Olmué, wo es stattfinden sollte, ist allerdings nicht alles so ganz reibungslos abgelaufen. Olmué zu finden war nicht schwer, doch die Adresse des Ferienkomplexes, wo wir hinwollten, war einfach allen unbekannt, die wir auf dem Weg fragten. Der Busfahrer guckte uns fragend an, winkte uns aber hinein. Auf der Plaza im Zentrum des Dorfes hielt der Busfahrer dann an und fragte eine Politesse. Nach einem kurzen Gespräch wirkte der Busfahrer, als wüsste er jetzt, wo wir hinmüssten. Es schien, als würde er extra für uns einen Umweg fahren, um uns hinzubringen. Irgendwo im nirgendwo ließ er uns dann raus und meinte nur: „Dahinten irgendwo muss es sein“. Mit all unserem Gepäck beladen liefen wir dann am Straßenrand in Richtung der „Ruta“ (Bundesstraße). Rechts und links neben uns Felder, Wiesen und im Hintergrund die Berge. Häuser? Schilder? Fehlanzeige. Die Sonne heizte uns ordentlich ein. Wir hatten zwar eine Adresse, aber die besagte nur, dass es irgendwo an der Bundesstraße liegen musste. Das tolle Kürzel „s./n.“ („sin número“ = „ohne Hausnummer“) stand dahinter. So liefen wir erstmal ein ganzes Stück in, was wir später herausfanden, die falsche Richtung. Irgendwann setzen wir uns dann in eine kleine Bushaltestelle und hielten den Daumen raus. Jedes zweite Auto, das vorbeifuhr, hupte – jedoch nicht, weil wir im Weg standen. Nein! Tina und Derya waren der Auslöser. Was der Pfiff auf dem Bürgersteig ist, ist auf der „Ruta“ nun mal ein lautes Hupen. Ein paar Autos hielten auch an, doch nachdem wir ein Dutzend Leute gefragt hatten und auch alle Einheimischen dort noch nie etwas vom „Complejo turístico Pueblo Andaluz“ gehört hatten, entschieden wir uns schlussendlich den nächsten Bus wieder nach Olmué zu nehmen und dort in der Touristeninformation noch einmal nachzufragen. Wir waren mittlerweile schon eine gute Stunde zu spät. In der Touristinformation konnte man zumindest mit dem Namen etwas anfangen. In einem Taxi begaben wir uns dann noch einmal auf die Suche und stellten fest, dass wir schon ganz in der Nähe gewesen waren. Als wir dann endlich ankamen, waren alle schon fertig mit dem Mittagessen, aber für uns war noch etwas da.
Das Seminar dauerte acht Tage und wir waren insgesamt zwanzig Freiwillige, die in unterschiedlichsten Projekten in Uruguay, Argentinien und Chile arbeiten. Wir haben uns viel ausgetauscht, das letzte halbe Jahr reflektiert und mit unseren Seminarleiterinnen noch eine Menge gelernt und Motivation für die noch verbleibende Hälfte gesammelt. Die Ferienanlage, in der alles stattfand, war im wahrsten Sinne „irgendwo im Nichts“. Das Dorf war gute vier Kilometer weit weg und außer der „Ruta“ und vielen Feldern war dort nichts in der Nähe, aber wir hatten alles, was wir brauchten und noch deutlich mehr. Nette Leute, gute Stimmung, super Essen, gemütliche Zimmer, perfektes Wetter und einen kleinen Pool. Was will man mehr? Es fühlte sich eher nach Urlaub an, um ehrlich zu sein. Gekrönt wurde das ganze am sechsten Tag. Das war unser Ausflugstag und der führte uns noch einmal nach Valparaíso und an die Küste. Eigentlich sollte das schon einen Tag vorher stattfinden, doch wegen der Tsunamiwarnung an der chilenischen Küste haben wir den Ausflug auf den Sonntag verschoben. Die schlimmen Befürchtungen sind ja, Gott sei Dank, in Chile nicht so eingetroffen. Es wurden einige Hotels direkt am Strand evakuiert und in der Nacht von Freitag auf Samstag sollte die Welle ankommen. 0.38 Uhr war für Valparaíso und Viña del Mar berechnet worden. Alle Sender haben live berichtet und wir saßen auch alle mit einem komischen Gefühlt vor der Flimmerkiste. Es wurden Bilder vom Wasser gezeigt und von Menschen, die in ein Fußballstadion evakuiert wurden. Aber außer einem Wasserstand 40 cm über dem normalen ist nichts passiert, sodass wir am übernächsten Tag mit zwei Bullis die Küstenstraße mit unglaublichen Aussichten entlangfuhren. Eine Bucht schöner als die andere kurvten wir uns den Pazifik entlang nach Valparaíso, wo wir erst das Haus Pablo Nerudas, wohl einem der bekanntesten chilenischen Schriftstellers und politisch Aktiven, besuchten. Den späten Nachmittag und Abend verbrachten wir dann am Strand von Reñaca. Ich war zum ersten Mal im kalten Pazifik schwimmen und hab dort Wellen mitbekommen, die ich so vorher noch nicht gesehen habe. Das ist noch einmal etwas ganz anderes als die Nordsee!
Der Ausflug - zum ersten Mal in den kalten Pazifik!
Auf der Rückfahrt ging der Grenzübergang dann etwas schneller, aber trotzdem waren wir ziemlich fertig als wir wieder in San Marcos ankamen. Die Kinder haben sich riesig gefreut uns wiederzusehen und die Freude war auch auf unserer Seite groß. Manche der Kleinen wollten uns kaum wieder loslassen. Der Alltag im Heim holte uns dann allerdings bereits am nächsten Morgen wieder ein. Alles, was vorher im Heim gut gelaufen ist, tat es immer noch so. Leider hat sich aber auch keines von den „alten“ Problemen „in Luft aufgelöst“. So bleiben einige Schwierigkeiten mit anderen Mitarbeitern und ein etwas angespanntes Verhältnis zu unseren Chefs weiterhin bestehen, aber das ist jetzt weniger schlimm. Zwei Tage nach unserer Rückkehr, fand nämlich der Auszug statt, sodass wir jetzt nicht mehr durchgehend aufeinander hocken. Wir haben unsere „Arbeitszeit“ und unsere „Freizeit“, in der wir jetzt wirklich „frei“ haben und in der wir Zeit und Raum für uns haben. Drei Tage später finden wir uns jetzt dort wieder, wo ich angefangen habe zu schreiben und für heute den Eintrag beende – im neuen Haus mit Derya, Leon, Tina und Uschi, im neuen Abschnitt unseres Jahres, in den letzten fünf Monaten Argentiniens, in unserer Wohnküche am Frühstückstisch am Rande des Dorfes in San Marcos Sierras, wo uns morgens durch das Küchenfenster der Esel begrüßt.
Mit den besten Grüßen an alle in der Heimat und sonst wo auf dem Globus, wo meine Zeilen gelesen werden,
Euer Tobi
P.S.: Langsam wird es hier Herbst. Bei jedem Regenschauer muss ich an zuhause denken. Klingt komisch, ist aber so.
P.P.S.: Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag, Julian! Ich hab das nicht vergessen, aber ich habe keine E-Mail-Adresse von dir und du wehrst dich ja gegen jede Art von sozialem Netzwerk, also hier: Hoffe, du hast gut gefeiert und im September kriegen wir dann garantiert wieder den nächsten Doppelkopfabend hin!